Auswärtsstark (13)
In unregelmäßgen Abständen berichten die Schreiberlinge des FohlenKommandO über ihre Groundhopper-Erlebnisse aus anderen Ligen, anderen Ländern. Heute mit einem Gastbeitrag: Europameisterschaft Qualifikation, Gruppe C, Ungarn - Griechenland, Puskás-Ferenc Stadion, Budapest, 21.11.2007.
Budapest, Mitte Oktober 2007. Ich stehe auf dem Dach einer großen Einkaufsmall im Zentrum der ungarischen Hauptstadt, als mein Telefon klingelt. Ein langjähriger ungarischer Freund aus Berlin kündigt seinen Besuch in Budapest an: Europameister Griechenland gastiert zum letzten Spiel der EM-Qualifikation in Ungarn. Ich denke spontan zurück an das letzte Spiel der Qualifikation zur Weltmeisterschaft zwei Jahre zuvor. Ungarn hätte einen Sieg gegen Schweden gebraucht. Bis zur 91. Minute steht es 0:0 und dann macht Zlatan Ibrohimovic ein typisches Ibrahimovic-Tor. Die WM war auch ohne Ungarn ein voller Erfolg, die Schweden sind bekanntlich gegen Deutschland rausgeflogen, aber wir auf den ungarischen Rängen wurden damals wieder einmal enttäuscht. Ungarn hat diesmal keine Möglichkeit mehr sich zu qualifizieren, kann von Malta, dem letzten der Gruppe, aber auch nicht mehr eingeholt werden. Dafür kommt Otto Rehhagel als erster der Qualigruppe C und natürlich als Titelverteidiger in die Stadt. Und: Ungarn hat kürzlich in einem grandiosen Freundschaftsspiel den aktuellen Weltmeister Italien mit 3:1 besiegt. Vielleicht also ein Sieg gegen Europameister Rehhagel? Ich sage zu!
Von der Tiefgarage ins Stadion
Budapest, 21. November 2007. Unsere kleine vierköpfige Firm trifft sich am frühen Abend im Gödör Klub. Der Ort war eigentlich einmal als Tiefgarage des Nationaltheaters vorgesehen, heute ist es ein Fixpunkt des Budapester Nachtlebens, den wir zur Spielvorbereitung nutzen. Mit dabei John aus Gilllingham/UK, pensionierter BT-Angestellter und Fußball-Experte für englischen, schottischen und ungarischen Fußball. Ungarischer Fußball? Ich glaube es erst, als ich bei den Gesprächen über die Kicker der zweigleisigen zweiten ungarischen Liga nicht mehr mitreden kann. Die englische Nationalmannschaft ist ihm egal. Durch eine verpasste Quali der Engländer könnte er einige der vermutlich freiwerdenden Karten für das Turnier in Österreich und der Schweiz ergattern, so seine Rechnung. John, Sanyi und Robert haben sich in einem Fußballforum kennen gelernt – Schwerpunkt Ungarn versteht sich.
In die blaue Metrolinie drängen an allen Stationen die mit rot-weiß-grünen Flaggen und den üblichen Gesängen ausgestatteten so genannten szurkolók (Fans). Wiedergutmachung für die 0:3 Niederlage gegen Moldawien ist angesagt. Am ehemaligen Volksstadion sticht die massive Polizeipräsenz sofort ins Auge. Polizisten in schwerster Schutzmontur, Blaulicht überall und sogar ein Wasserwerfer folgt einer Wagenkolonne. Seit vor über einem Jahr die Veröffentlichung einer internen Rede des Ministerpräsidenten zu schwere Ausschreitungen geführt hat, bei denen Hooligans eine Hauptrolle spielten, will die Polizei bei Fußballspielen vorbereitet ein – besonders bei internationalen Begegnungen. So dauern auch die Eingangskontrollen länger als geplant und als wir mit acht Minuten Verspätung die steilen Stadiontreppen hinaufeilen, fällt das 1:0 für Ungarn.
Mittelfeldspieler Ákos Buzsáky kann eine Einzelaktion mit einem Schuss abschließen, der von Konstantinos Katsouranis über Keeper Chalkias ins Tor abgefälscht wird. Wir haben gerade noch eine paar Sekunden Zeit mitzujubeln. Während Ungarn immer wieder gefährlich über die Flügel kommt, daraus jedoch kein Kapital schlagen kann, bringt ein Eigentor durch Vilmos Vanczák nach einer Flanke von Katsouranis die griechischen Gäste wieder zurück ins Spiel. Die Begegnung bleibt bis zur Pause spielerisch ausgeglichen, Ungarn vergibt weitere gute Möglichkeiten durch Halmosi und Tőzsér.
Ungarn – Big Brother 0:6
Es ist bitterkalt. Auf dem Weg zum sozialistisch angehauchten Bierstand, bei dem es nur Tee mit Wein gibt (kein Glühwein!) kommen wir an heruntergekommenen und mit Unkraut überwachsenen Sektorenaufgängen des ursprünglich für 80 000 Zuschauer gebauten Puskás Ferenc Stadions vorbei. Für die oberen Ränge werden wegen der Baufälligkeit der Betonschüssel keine Tickets mehr verkauft. Vor genau einem Jahr wurde mit dem Namensgeber des Stadions Ferenc Puskás die größte Ikone des ungarischen Fußballs auf dem kaputten Rasen aufbahrt und anschließend bei einer international beachteten Zeremonie zu Grabe getragen. Seit der 0:6 Niederlage gegen den „Big Brother“ Sowjetunion bei der Vorrunde der WM 1986 in Mexiko hat sich die Fußballnation Ungarn nicht mehr für ein großes Turnier qualifizieren können. Die Nationalmannschaft ist höchstens drittklassig, die ungarische erste Liga spielt international nicht einmal im UEFA-Cup eine Rolle. Zahlreiche sportpolitische Fehlentscheidungen und eine unzureichende Trainerausbildung und Nachwuchsförderung sind die wichtigsten Gründe. Als sich Ungarn zuletzt zum dritten Mal für die Ausrichtung der Europameisterschaft bewarb – diesmal in Kooperation mit Kroatien – bekam die gemeinsame Bewerbung keine einzige Stimme.
Ria-Ria-Hungaria
Ungarn kommt engagiert aus der Halbzeit. Torschütze Buzsáky sorgt zweimal für Gefahr vor dem griechischen Kasten. Rehhagel hat allerdings angesichts der zahlreichen ungarischen Vorstöße über die Flügel Konsequenzen gezogen und die Außenbahnen verstärkt. In der 55. Minute kann Bundesligatorschützenkönig Theofanis Gekas von Bayer Leverkusen im Strafraum nur noch durch ein Foul von Torwart Fülöp gestoppt werden. Griechenlands Kapitän Angelos Basinas verwandelt den fälligen Foulelfmeter zum Endstand. Die etwa 500 anwesenden (Exil-)Griechen machen sich lautstark bemerkbar, König Otto tanzt an der Seitenlinie. Im Anschluss werden die berühmten „Ria-ria-Hungaria“ - Rufe der Ungarn seltener – und leiser. Die ungarische Trikolore, die auf die Wangen des hübschen Mädchens zwei Reihen vor uns geschminkt ist, friert langsam ein. Und als der bemühte und neue ungarische Hoffnungsträger Tamás Hajnal, der mit der Referenz einer sehr guten Bundesliga Hinrunde mit Karlsruhe angereist ist, in der 76. Minute ausgewechselt wird, verlassen die ersten szurkolók das Stadion.
Schuld ist Gyurcsány
Wir halten bis zum Schlusspfiff aus. Bilanz der Quali: Ungarn bleibt Sechster von Sieben, gewinnt viermal und verliert achtmal, erzielt ein Tor mehr als Malta und eines weniger als Moldawien. „Gyurcsány ist schuld!“ Während wir tiefgefroren dem Stadionausgang entgegen laufen, macht einer der ungarischen Fans, die in der Regel das Oppositionslager unterstützen, den Ministerpräsidenten für die Niederlage verantwortlich. Die Tagespolitik ist hierzulande eben Teil des Fußballsports. Als wir im warmen Taxi Richtung Kneipe in der Innenstadt sitzen, erreicht John die SMS eines Freundes: Auch England scheitert in der EM-Qualifikation, durch eine Niederlage im letzten Spiel zuhause gegen Kroatien.
Andreas Bock
Bisher in dieser Reihe erschienen:
Auswärtsstark (12): FC TVKM Tallinn - FC Levadia Tallinn
Auswärtsstark (11): LASK Linz - Cashpoint SCR Altach
Auswärtsstark (10): Preußen Münster - SV Schermbeck
Auswärtsstark (09): SV Wehen Wiesbaden - VfB Stuttgart
Auswärtsstark (08): Red Bull New York - Chicago Fire
Auswärtsstark (07): Borussia Mönchengladbach II - FC St. Pauli
Auswärtsstark (06): Bayer Leverkusen - CA Osasuna
Auswärtsstark (05): Bayer Leverkusen II - FC St. Pauli
Auswärtsstark (04): Eintracht Frankfurt - Newcastle United
Auswärtsstark (03): Öffentliches Training des 1. FC Köln
Auswärtsstark (02): Fortuna Düsseldorf - FC St. Pauli
Auswärtsstark (01): Factor Ljubljana - Bela Krajina
Leserbrief schreiben